Wer sich aus dem Tal der Ahnungslosen in nördliche Richtung aufmacht, bergaufwärts fährt, sich durch Waldschneisen schlägt, gelangt nach Hellerau, auf den Grünen Hügel Dresdens, ins "Europäische Zentrum der Künste". Ein mächtiger Dreiecksgiebel ragt da in den Himmel, von eckigen Säulen getragen, ein Yin-und-Yang-Symbol prangt in seiner Mitte. Ende der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts beherbergte das Gebäude des Architekten Heinrich Tessenow, ursprünglich für Émile Jaques-Dalcrozes »Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus« konzipiert, eine Polizeischule. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente es der Roten Armee als Lazarett und Sporthalle. Erst nach der Wende zog hier wieder die Kunst ein; sie erfüllt das Festspielhaus nun wieder ganzjährig mit Leben. Künstlerischer Leiter des Hauses ist seit 2009 der gebürtige Rostocker Dieter Jaenicke. Er hat das Festspielhaus zu einem Zentrum für vielfältige Strömungen des zeitgenössischen Tanzes gemacht, ein Ort, der nach ganz Sachsen, nach Ostdeutschland und inzwischen darüber hinaus ausstrahlt. Wie aber steht es in Hellerau momentan mit "Musik und Rhythmus"? Für »Musik in Sachsen« hat Martin Morgenstern darüber mit Jaenicke gesprochen.
Dieter Jaenicke, Ihr Hellerauer Intendantenvertrag läuft vorerst noch für zwei Jahre. Streben Sie eine Verlängerung an?
In diesem Beruf gibt es keine Altersgrenze im klassischen Sinn. Denken Sie an Jürgen Flimm, der hat mit über siebzig noch erfolgreich die Salzburger Festspiele und das Thalia Theater in Hamburg geleitet! Wenn ich mir vorstelle, ich würde Ende 2014 in Rente gehen - das klingt für mich absurd! Nein, mit dem Dresdner Kulturbürgermeister verhandle ich seit einiger Zeit über eine Vertragsverlängerung - und bis auf Kleinigkeiten sind wir uns auch einig. Ich gehe also davon aus, dass ich noch ein paar Jahre hierbleibe.
Programmatisch haben Sie Hellerau seit Ihrem Amtsantritt ja ziemlich umgekrempelt.
Ich glaube, wir haben in den letzten vier Jahren etwas unter nicht ganz einfachen Bedingungen aufgebaut; effektiv wäre es einfach zu früh für einen erneuten Wechsel. Das muss sich alles erst mal setzen, belastbar werden. Und dann ist es irgendwann gut, wenn mal ein Neuer kommt. Vorher gibt es aber noch wesentliche Baustellen, die wir angehen müssen. Diese Dinge würde ich gerne noch auf den Weg bringen.
„Meine Güte, ist das hart hier,“ seufzten Sie mir vor drei Jahren in den Block. Ist es inzwischen einfacher geworden auf dem Grünen Hügel?
Ja, vieles hat sich geändert. Durch die schwierigste Phase sind wir hindurch. Ich hatte damals ein Haus übernommen, das im Jahr knapp 4800 Zuschauer hatte. Das geht für ein Haus dieser Größenordnung einfach nicht. Im letzten Jahr hatten wir nun 43.000 Zuschauer. Diese Steigerung mussten wir erst einmal erarbeiten. Die ersten Jahre waren hart; ich dachte, das klappt nie. Inzwischen haben wir uns aber einen Ruf, ein Image erarbeitet: Hellerau ist ein Ort, an dem hochinteressante zeitgenössische Produktionen stattfinden…
…wobei der Schwerpunkt nun deutlich auf dem Tanz liegt.
Sicherlich ist das unser Hauptprofil. Das macht vor dem Hintergrund der Geschichte des Hauses absolut Sinn. Man kann hier aber tatsächlich wenig als gesetzt ansehen, muss um jede Produktion neu kämpfen, überlegen, wie vermarkte ich das? Das geht den Kollegen in Hamburg oder Düsseldorf zwar nicht anders; aber in Hellerau kommt dazu: wir sind am Stadtrand „fast auf dem Lande“, in einer Stadt, die eher konservativ im Kunstgeschmack ist. Das ist immer wieder ein Kampf.
Gibt es dabei Überraschungen im Publikumsverhalten?
Ja. Wir haben zum Beispiel seit einiger Zeit ein neues Phänomen. Die zweiten Vorstellungen sind oft wesentlich besser verkauft als die ersten. Wenn die Leute eine Produktion überrascht hat, ist am nächsten Tag die Hütte voll! Das Potential des Hauses ist glaube ich in dieser Hinsicht auch noch nicht ausgeschöpft. Allerdings sind die personellen und finanziellen Ressourcen ausgereizt. Mit zwanzig Festangestellten muss man irgendwann sagen: jetzt ist Schluss. Man kann nicht ununterbrochen das Kräfte-Reservoir bis zum letzten ausbeuten.
Grob gesagt, speist sich das Budget des Hauses aus öffentlichen Mitteln, weiteren eingeworbenen Geldern und den Ticket-Einnahmen. Können Sie bitte einmal einen Überblick geben, wie sich diese drei Säulen über die Jahre Ihrer Intendanz jeweils entwickelt haben?
Unsere öffentlichen Mittel sind jährlich nahezu gleichbleibend, etwa 3,2 Mio. Euro. Das ist ausschließlich städtisches Geld. An Eintrittseinnahmen hatten wir 2009 70.000 Euro, im letzten Jahr 190.000 Euro. Im Vergleich sind unsere Eintrittspreise allerdings sehr, sehr günstig; das ist eine bewusste Entscheidung. Hier im Osten muss man da immer noch sehr sehr vorsichtig sein. Eine Eintrittskarte für „Batsheva“ kostet in Hellerau 19 Euro, in Hamburg 50 Euro.
Zu den Fördermitteln: da ist insgesamt eine große Ausweitung kaum möglich, weil die Stiftungen, bei denen wir uns bewerben, fast immer die gleichen sind. Wir haben uns hier von 300.000 im Jahr 2009 auf zuletzt 450.000 Euro gesteigert. Insgesamt hatten wir im letzten Jahr ein Budget von 700.000 Euro an nichtstädtischen Fördermitteln. So kommen wir auf einen Etat von 3,8 Mio. Euro.
Wie wäre diese Summe noch zu steigern?
Wir gehen jetzt auch neue Wege: beispielsweise über die Ghetty-Stiftung in Los Angeles. In der Förderungskultur müssen wir internationaler werden. Wichtig ist, dass wir zum zweiten Mal die Ostsächsische Sparkasse als großen Förderer haben. Aber man muss sich da nichts vormachen: in Dresden sitzen keine großen Sponsoren. Ich glaube auch nicht, dass unser Programm für Sponsoren eine große Attraktivität hätte. Wenn Sie nach anderen Wegen fragen: da spielt für mich die Weltkulturerbebewerbung eine Rolle. Ich glaube fest daran, dass das Hellerauer Ensemble demnächst der UNESCO vorgeschlagen wird. Ob wir dann tatsächlich Weltkulturerbe werden, vermag ich nicht zu beurteilen.
Die Stadt hat bisher kein eindeutiges Bekenntnis zur Renovierung des Ostflügels des Gebäudeensembles abgegeben. Könnte das die Bewerbung gefährden?
Die Weltkulturerbe-Vergabe unterliegt strengen und unglaublich detaillierten Regeln. Eine dieser Regeln ist, dass die wesentlichen Elemente eines baulichen Ensembles nach wie vor erhalten sind und denkmalschützerischen Auflagen unterliegen. Das heißt: wenn wir ins Zentrum unseres Weltkulturerbeantrags das Festspielhaus als Prototyp einer neuen Theaterbühne des 20. Jahrhunderts stellen, und der Ostflügel des Festspielhaus-Ensembles sieht so aus wie jetzt, kommen wir nicht weiter, dann scheitert unsere Bewerbung. Das wissen alle Beteiligten auch. Wir müssen diesen Ostflügel nicht nächstes Jahr fertig haben; aber es muss eine vertrauenserweckende Planung geben, dass das gesamte Ensemble fertiggestellt wird.
Ist sich der Stadtrat eigentlich der Tatsache bewusst, dass er einen enormen Haufen an privaten Geldern aufs Spiel setzt, die bereits in die Bewerbung geflossen sind, wenn er sich nicht rasch und eindeutig zur Renovierung bekennt?
Dazu müssen wir sehen, was in den letzten Monaten passiert ist. In der anstrengenden Diskussion um die beiden großen Kulturprojekte der Stadt - den Bau eines neuen Konzertsaales in den Kulturpalast und den Ausbau des Kraftwerks Mitte zum Kulturzentrum mit Operette und theater der jungen generation - wurde die Renovierung des Hellerauer Ostflügels erst einmal bewusst ausgeklammert. Wir versuchen nun, auf wenig medienspektukuläre Weise mit den politisch Verantwortlichen zu gangbaren Lösungen zu kommen. Es gibt natürlich ein Interesse der Stadt an dem Weltkulturerbe, auch ein klar prononciertes Interesse der Oberbürgermeisterin. Und wir arbeiten im Moment ganz hervorragend mit allen Verwaltungen der Stadt zusammen, stellen Statistiken, Dokumente, Unterlagen zusammen. Irgendwann in diesem Jahr wird dann eine Kommission nach Hellerau kommen, und selbstverständlich werden die fragen: was ist das denn hier? Wenn wir dann keinen belastbaren Plan vorzeigen können, haben wir das viele private Geld in der Tat umsonst ausgegeben.
Lassen Sie uns noch einmal zurück zu den Inhalten Ihrer künstlerischen Arbeit kommen. Bei der Vorstellung des jüngsten Jahresprogramms wurde klar: die zeitgenössische Musik hat es in Hellerau, das ja ein Ort aller zeitgenössischen Künste sein will, nun noch schwerer. Das TONLAGEN Festival, bisher jährlich veranstaltet, pausiert bis 2014.
Dass ich meine Schwerpunkte beim zeitgenössischen Tanz setzen will - daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Das hat weniger mit persönlicher Vorliebe zu tun; es ist meine Aufgabe, das ursprüngliche Profil des Hauses in die Jetztzeit umzusetzen, und da ist nun mal der Tanz der zentrale Moment. Ich bin mindestens so theateraffin und mit Sicherheit so musikaffin, wenn vielleicht auch weniger bei den Zeitgenossen.
Zweitens frage ich: wie sieht eigentlich die gesamte Kunstlandschaft im Osten aus? Ein Zentrum für den Tanz ist da bitter nötig! Die Musik ist, finde ich, daneben nicht nur über TONLAGEN allein zu definieren. Wir machen Kooperationen mit dem ensemble courage, mit den Dresdner Sinfonikern, stehen für Koproduktionen zur Verfügung. Auch dieses Jahr haben wir anspruchsvolle musiktheatralische Projekte im Programm.
In der Tat ein Unterschied zu meinem Vorgänger ist: bei einer ganzjährigen Bespielung des Hauses komme ich in die Situation, nicht mehr so viel Geld für ein Festival zeitgenössischer Musik ausgeben zu können. Musik ist sehr viel teurer als andere Künste: Musiker lassen sich auf Honorar-Diskussionen, auf die sich Tänzer einlassen, niemals ein! Die Entscheidung, das Festival als Biennale stattfinden zu lassen, hat die Journalisten überrascht, ist aber über einen längeren Zeitraum nicht nur intern, sondern auch mit der Kulturverwaltung der Stadt Dresden immer wieder angesprochen worden. Der Gedanke fand Zuspruch. Natürlich würde ich auch lieber genügend Geld haben, um jedes Jahr ein anspruchsvolles Festival zu haben, schaffe es aber finanziell nicht.
Hat sich Ihnen dabei die Frage gestellt, ob bestimmte Programminhalte der bisherigen TONLAGEN vielleicht zu sperrig waren, ob man mit zugänglicheren Formaten zeitgenössischer Musik vielleicht ein größeres Publikum und damit mehr Einnahmen generieren könnte?
Schon bei Heiner Goebbels war es schwierig: am ersten Abend seiner Produktion stand er auf der Bühne und sagte etwas pikiert: „Das ist die 300. Aufführung von »Stifters Dinge« - und die erste, die nicht ausverkauft ist!“ Sicher müssen wir einen Weg finden, etwas populärere Formen mit anspruchsvollen Formen zu kombinieren. Nicht alles, was wir gemacht haben, ist da glücklich gewesen. Bei Premieren weiß man nie ganz genau, was herauskommt. Das wird auch in Zukunft so sein. Aber wenn 2014 das nächste TONLAGEN Festival stattfindet, wird diese Diskussion verstummen, denn dann wird es nach wie vor ein bereicherndes Element für das Haus sein.
Das Hellerauer Publikum ist jünger als an anderen Häusern, und kommt inzwischen von weit her. Die Dresdner aber sitzen in ihren Musennestern - für sie ist Hellerau nach wie vor unendlich weit weg. Ist diese kaputte Beziehung noch zu retten?
Ich hoffe es! Zunächst, was die Altersfrage angeht: wir haben den höchsten Anteil junger Menschen im Vergleich aller Häuser der Stadt. Aber wir haben auch ein heterogenes Publikum, und das möchte ich gern ausweiten. Ab Herbst arbeitet zudem eine neue Kollegin mit viel Erfahrung bei uns, die speziell für die Publikumsentwicklung zuständig ist. Ich will über ein Projekt erzählen: im September machen wir eine Musiktheaterproduktion, in der es darum geht, musikalische Erinnerungen alter Menschen aufzugreifen und sie auf die Bühne zu bringen. Manche Dresdner muss man da einfach nur mal persönlich an die Hand nehmen, hierherbringen, dann sind die in aller Regel sehr erstaunt und merken hoffentlich: Hin und wieder lohnt es sich, nach Hellerau zu fahren!
Was bei älteren Besuchern einfach Fakt ist: in der Dunkelheit, im Winterhalbjahr durch den Wald nach Hellerau hinauszufahren, ist eine Hürde. Dazu werden wir sie auch nicht bewegen. Die gefühlte Distanz können wir nicht ändern. Wir machen ja schon alle möglichen Dinge, sitzen schon unendlich viel zusammen und überlegen, wie wir es schaffen, ein anderes Publikum anzusprechen. Wir werden da zunehmend auch über alle möglichen kleinen Aktionen versuchen, die alteingesessenen Träger des Dresdner Kulturmythos noch mehr für dieses Haus zu begeistern.
Vor Jahrzehnten kam die Sächsische Staatsoper für einzelne Inszenierungen nach Hellerau. Wäre das nicht eine Zusammenarbeit, die sich lohnte wiederzubeleben? Wo doch die Sächsischen Staatstheater immer über die große Raumnot klagen…
Ich möchte nicht über noch nicht ganz gelegte Eier reden, kann aber sagen: da gibt es eine Menge Initiativen, insbesondere von uns, und da wird vielleicht in der Zukunft noch sehr überragendes entstehen. Kooperation mit andren Kulturinstitutionen ist eine wesentliche Basis meiner Arbeit hier. Wir haben mit dem Staatsschauspiel das Festival „Freies Theater“ gemacht; es war extrem erfolgreich und hat sofort funktioniert. Mit der »Tanzplattform« haben wir ja bereits eine Kooperation mit der Oper; wir hatten das Semperoper Ballett hier im Haus, was für die Tänzer eine neue Erfahrung war. Wir machen ein Festival gemeinsam mit dem Societätstheater. Was wir uns für den Ostflügel vorstellen, ist ein Residenz- und Probenzentrum, wobei mir vor allem anderen die freie Szene am Herzen liegt.
Das war nicht Ihre Frage, ich würde aber gern sagen: für mich spielt es eine wichtige Rolle, dass es eine lebendige, kreative, bewegliche, unruhige freie Kunstszene in Dresden gibt. Wenn eine Stadt so etwas nicht hat, kann sie sich auch gleich in Landkreise auflösen. Dieser Schmelztiegel, die Unruhe, das Subkulturelle… dem wollen wir hier in Hellerau auch ein Zuhause geben. Daneben gehört für mich auch dazu, dass wir diese wunderschöne Eigenart Dresdens nutzen, dass alle mit allen zusammenarbeiten. Und die großen staatlichen Häuser gehören da unbedingt dazu.
Vielen Dank für das Gespräch!
