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Ellbogen kommt später

Junge Sachsen im Alter von 10-14 finden sich alljährlich zum sommerlichen Musizieren zusammen. Aus den "Landstreichern" ist längst ein hochprofessionelles Ensemble geworden.

Ende der neunziger Jahre schien das Landesjugendorchester Sachsen einen fatalen Durchhänger bei der Mitgliederwerbung zu haben. Mit einem Mal meldeten sich nicht mehr genug Musiker für die Projekte an. »Das war uns Anlass, einmal zu schauen: wie können wir den Streicher-Nachwuchs vielleicht schon in einem früheren Alter für das Orchesterspiel interessieren und gezielt fördern?«, sagt Matthias Pagenkopf, der beim Sächsischen Musikrat unter anderem für den Sächsischen Orchesterwettbewerb verantwortlich ist. »Bei 'Jugend musiziert' haben wir immer wieder gesehen: an vielen Musikschulen gibt es fantastische Musiker von zehn, elf Jahren!« Eigentlich war die Idee dann naheliegend: lässt sich der verbindende Geist des Landesjugendorchesters nicht auch schon auf jüngere Musiker übertragen? Ein Experiment wurde auf die Schiene gesetzt: geplant mit Streichern, denn Bläser fangen nicht so zeitig mit der musikalischen Ausbildung an. 2002 waren die »Landstreicher« geboren.

Profis outen sich als ehemalige Landstreicher

Zu Anfang war den Organisatoren nicht recht klar, wie so ein Angebot für Jüngere aussehen könnte. Würde das eine Art Ferienlager mit ein bisschen Musik? Oder ein professionelles Probenlager mit etwas Freizeitanteil? Die ersten beiden Jahre tendierten die Landstreicher in Richtung Ferienlager, mit einem attraktiven Urlaubsort direkt an der Ostsee; der Name war Programm. Bald aber merkte Matthias Pagenkopf: Da geht noch was. Die Teilnehmer brannten darauf, mehr Musik zu machen. »Die Künstlerische Leitung hatten wir ausgeschrieben«, erinnert sich Matthias Pagenkopf; »wir hatten eine hervorragende Dirigentin ausgewählt, die später allerdings ans Staatstheater Cottbus ging und die Landstreicher aus Zeitgründen nicht mehr leiten konnte.« Mit ihrem Nachfolger, dem Dresdner Dirigenten Wolfgang Behrend, »war es dann musikalische Liebe auf den ersten Blick.« Unter Behrend wurde schnell klar: die Kinder wollten ein anderes Tempo vorlegen. »Die Dozenten, die die verschiedenen Stimmgruppen unterrichteten, haben diesen Wissensdurst gern unterstützt«, erinnert sich der Dirigent im Gespräch; »sie sagten: 'Wenn wir uns hier hinsetzen und Mozart und Bach spielen, dann bitte auch gleich mit der richtigen Stilistik!' Trotz der jährlich wechselnden Besetzung konnte sich eine Spielkultur entwickeln. Bei den Landstreichern lernt man: wie musiziert man eigentlich gemeinsam, wie phrasiert man ab, was steckt hinter den Noten?« Anfangs, lächelt Wolfgang Behrend, hätten wohl manche Musikschullehrer das Projekt unterschätzt. Inzwischen wurde die ursprüngliche Altersklasse von 9 bis 13 Jahren etwas nach hinten verschoben. Seit die älteren Landstreicher direkt ins Landesjugendorchester oder in die Junge Streicherphilharmonie wechseln können, hat sich der Anspruch ans eigene Tun noch einmal verstärkt. »In einer Zeit, wo der Ellbogen noch nicht ausgefahren ist, sammeln die Kinder Orchestererfahrung auf spielerische Weise. Wenn man mit zehn, elf Jahren anfängt, im Trio oder im Quartett zu spielen: das ist eine unschätzbare Basis«, so Behrend. Viele Musiker, die inzwischen professionelle Karrieren eingeschlagen haben, etwa die Geigerinnen Anna Matz oder Nora Scheidig, outen sich als ehemalige Landstreicherinnen.

Inzwischen gibt es für die Sommerprojekte fast doppelt so viele Bewerber wie Plätze. Ein ernsthaft betriebenes Probespiel und eine im Gegensatz zu vielen vergleichbaren Ensembles strikte Altersgrenze – wer älter als 14 ist, muss jüngeren Bewerbern Platz machen – helfen, jedes Jahr hoffnungsvolle junge Talente aus den Musikschulen in Görlitz, Plauen oder Stollberg anzuziehen. »Die sitzen dann in den Proben neben den Senkrechtstartern des Sächsischen Landesgymnasiums für Musik«, hat der Dirigent beobachtet, »und merken: okay, die kochen ja auch nur mit Wasser. Die Spezialschüler werden ihrerseits geerdet: Mensch, die können ja auch spielen!« Ein für beide Seiten wichtiger Prozess, dessen künstlerische Ergebnisse allerdings in der Öffentlichkeit immer etwas unterbelichtet blieben. »Seit zwölf Jahren spielten wir Sommerkonzerte; allerdings war es schwer, das Orchester auch einmal seiner Bedeutung gemäß zu präsentieren«, sagt Matthias Pagenkopf. So ist nun zukünftig geplant, das Orchester im Herbst noch einmal zu einem weiteren Konzert zu versammeln.

Längst haben sich die Landstreicher zu einem hochprofessionellen jungen Streicher-Ensemble entwickelt – was den von Anfang an nicht unumstrittenen Namen, der ja eher Sommerfrische als konzentrierte Probentage suggeriert, nun fast ein bisschen unpassend macht.  Vielleicht ist er einer der Hauptgründe, warum die Idee, junge Streicher professionell auf ein erfolgreiches Orchesterleben vorzubereiten, in anderen Bundesländern noch keine Nachahmer gefunden hat? Über eine eventuelle Namensänderung könnten sich die Landstreicher ja im insgesamt dreizehnten Sommerlager, das in Trebnitz (Brandenburg) stattfindet, einmal austauschen.

Martin Morgenstern

Für die Landstreicher gelten strenge Altersgrenzen. Jährliche Probespiele sichern die künstlerische Qualität.
Intensive Probenarbeit und Freizeitausgleich...

ACHTUNG: Das Konzert <link http: www.saechsischer-musikrat.de>»Sachsens junge Streicher« am 22.11.2013 im Theater Görlitz muss leider entfallen!

Eine Textfassung des Artikels ist in der »Sächsischen Zeitung« erschienen.

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