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Kontinuierlicher Wandel

Es ist einer jener Montage dieses Sommers, an denen ein ganz spezifischer Ausnahmezustand in bundesdeutschen Kommunen herrscht. Deutschland spielt. Das erste Gruppenspiel. Alle Augen sind nach Brasilien gerichtet bzw. auf Bildschirme, die zeigen, was sich gerade zur FIFA-WM in Brasilien tut. Die Straßen sind wie leer gefegt. In Supermärkten herrscht freie Bahn. Und doch sind es eindeutig nicht alle Augen, die nach Brasilien schauen. In der Eilenburger Straße in Leipzig im Probenraum des Universitätsorchesters haben sich absolut freiwillig rund 80 junge Musiker zusammengefunden, um ihre Augen an die Gesten Raphael Haegers zu heften und möglichst homogen das umzusetzen, was der Dirigent von ihnen erwartet.

Was treibt eine so große bunt gemischte Gemeinschaft junger Menschen dazu, selbst diesen Abend mit Saint-Saëns zu verbringen?

Na ja, am heutigen Fußballabend sei es schon etwas schwieriger gewesen, für die Probe zu motivieren als sonst, relativiert Benno Münch, Medizinstudent, Bratscher im Leipziger Universitätsorchester und im dortigen Vorstand zuständig für Pressearbeit. Doch bis zum Konzert, das nicht nur ein Semesterkonzert ist, sondern das Jubiläumskonzert zum zehnjährigen Bestehen des Klangkörpers ist nur noch wenig Zeit, und das Programm sei wirklich anspruchsvoll. Wenn man da tatsächlich mitspielen wolle, dann müsse man sich schon ranhalten! Rebecca Brakmann und Luise Weiß pflichten bei. Brakmann, Geigerin und Vorstandsmitglied,  kann auf eine recht lange Laufbahn in dem Klangkörper zurückblicken. Weiß ist relativ frisch dabei, weiß aber, dass sie sich in den nächsten Jahren auch über das ordentliche Spiel ihrer eigenen Bratschenstimme hinaus für die Projekte des Orchesters engagieren will – im Vorstand oder in einer der vielen Kommissionen. 

Für die beiden jungen Frauen – die eine Studentin der Kultur-, die andere der Musikwissenschaft – war die Existenz des Uniorchesters ein Kriterium bei der Wahl des Studienstandorts. Und dass das noch eines von solcher Qualität ist, macht sie nun rundum glücklich. Alle drei Musiker, die sich wöchentlich einmal zur Probe mit Kommilitonen absolut aller Fachrichtungen treffen, hatten schon vor Studienbeginn Orchestererfahrung. Nicht Berufsmusiker werden zu wollen, war bei keinem eine Entscheidung gegen die Musik, sondern eben je für etwas Anderes. Insofern ist das Spiel im Uniorchester natürlich weit mehr als nur ein netter Ausgleich. Spürbar hängen die Studierenden mit Herzblut daran. Für Rebecca Brakmann ist es sogar die Chance, in der Vorstandsarbeit als Projektorganisatorin Dinge im Kleinen auszuprobieren, die sie sich schon irgendwie als berufliche Zukunft vorstellen könnte.

Basisdemokraten in einer Luxussituation

Eine strenge Satzung hatten sich die Gründer des Klangkörpers vor zehn Jahren ausgedacht und damit den Wandel zum Programm gemacht. Von Grund auf basisdemokratisch besteht das Universitätsorchester eigentlich so gut wie ausschließlich aus aktuell an Leipziger Hochschulen eingeschriebenen Studenten, die nicht nur über das Programm abstimmen, sondern auch über ihren Dirigenten, der auf befristete Zeit verpflichtet werden kann. Raphael Haegers Vertrag als Chef des Klangkörpers wurde bereits verlängert. Und der Musiker betont, wie er stolz auf die Arbeitsergebnisse mit den überragenden Amateuren ist. 

Obendrein wissen die Basisdemokraten, dass sie sich in einer absoluten Luxussituation befinden – denn welches Amateurorchester kann schon in wirklich professionellen Probespielen über die Aufnahme neuer Mitglieder entscheiden? Und in der Tat, so betont Münch, müsse man da in mancher Stimmgruppe auch richtig gute Musiker nach Hause schicken – einfach, weil wer dabei ist, ja dann auch mitspielen soll. Natürlich gebe es immer Stimmgruppen, in denen das Angebot größer sei als in anderen.

Eine Programmkommission, der jeder beitreten kann, der möchte, wählt relevante Vorschläge – jeder kann Stücke vorschlagen – für das Semesterkonzert aus und stellt sie der Gruppe zur Abstimmung.

Kein Wunder, dass die drei sehr unterschiedlichen Musiker die angenehme Atmosphäre innerhalb der Gemeinschaft als wichtigen Punkt hervorheben, dessentwegen man es immer wieder schafft, trotz Prüfungsstress und Studienalltag ordentlich vorbereitet zur Probe zu erscheinen. Und bei aller Freundlichkeit und Offenheit für die andere Situation, mit Probenbeginn ist Haeger Profi und behandelt seine Musiker wie Profis. Angesichts des Programms fürs Jubiläumskonzert am 13. Juli, 18 Uhr, eine kluge Entscheidung, denn neben Maurice Ravels „Rapsodie espagnol“ und Camille Saint-Saëns Orgelsinfonie wird im Gewandhaussaal auch eine Uraufführung erklingen. Zum Jubiläum hat sich das Orchester entschlossen, einen Kompositionsauftrag zu vergeben. Das Ergebnis der ebenfalls basisdemokratisch organisierten Vergabepolitik ist Manuel Durãos Werk „Feuilleton“. Und dessen Entstehung so relativ hautnah zu begleiten, war für die Musiker des Universitätsorchesters mindestens eine ebenso spannende Erfahrung wie die regelmäßigen Kooperationskonzerte mit dem MDR Sinfonieorchester, aus dem ohnehin die Mentoren des Klangkörpers kommen, und die zusätzlichen Projektkonzerte, an denen teilnehmen kann, wer Lust und Zeit hat, und bei denen – wie kürzlich bei Johannes Brahms’ „Ein Deutsches Requiem“ – auch regelmäßig internationale Kontakte geknüpft werden.

Dass keiner der drei Gesprächspartner die Orchesterzukunft auf die nächsten zehn Jahre planen will, ist ganz im Sinne der Erfinder. Die kontinuierliche Weiterentwicklung des Bewährten auch. Zum Jubiläum wird eine Festschrift von dieser Kontinuität im Wandel erzählen.

Tatjana Böhme-Mehner

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