Die Dresdner Musikfestspiele wollten sich von zukünftigen Bohemiens künstlerisch inspirieren lassen: Mitte Mai zogen daher acht Auserwählte ins entspannt-vagabundeske "Raskolnikoff" in der Neustadt ein – und führten tagelang ein Leben auf Kosten der bürgerlichen Gesellschaft. Die heutige Abschlusspräsentation findet indes an einem Ort statt, der zu der Projektphilosophie in eigentümlichem Kontrast steht: in der Gläsernen Manufaktur.
So geht Bohème: mit Geldern zweier großer Banken wird eine eigene Stiftung ausgestattet, und die finanziert als erstes Großprojekt acht jungen Künstlern ein lustiges Lotterleben! Andernorts mögen sich Rechnungsprüfer verwundert die Augen reiben; in Dresden gilts der Kunst. Hat sich die neue städtische "Stiftung Kunst und Musik" doch auf die Fahnen geschrieben, "Künstler, Musiker und kulturelle Perspektiven" in die Stadt zu holen und besonders den Nachwuchs zu fördern und zu vernetzen; so steht es im Stiftungsprofil.
Der Musikfestspiel-Intendant Jan Vogler schien sich letztes Jahr das ideale Förderprojekt dafür ausgedacht zu haben. Acht Nachwuchskünstler aller Sparten sollten auf seine Einladung hin als "Bohème 2020" dem Festivalprogramm eine frische, junge Note geben, eigene Projekte entwickeln, nebenbei die Stadt entdecken. Die Festspiele würden lediglich die Orte vorschlagen, der Rest bliebe den Künstlern überlassen, die ihr Publikum via Facebook, Twitter und Co. über ihr Tun auf dem Laufenden halten sollten.
Nun ist das Einfache in der Kunst bekanntlich oft am schwersten zu erreichen. Wer zum Beispiel meinte, junge Kreativkünstler wären heutzutage mit Residenzen bei einem renommierten Festival problemlos in Scharen zu locken, der unterschätzt den Aufwand, den die Festspielmitarbeiter während der letzten Monate in den Vorbereitungs- und Auswahlprozess stecken mussten. Von Woche zu Woche verzögerte sich der Start des Projekts, die Musikfestspiele rückten näher und näher. Mitte April standen die Teilnehmer endlich fest, die folgenden Wochen verstrichen mit Planungen, Telefongesprächen und Skype-Konferenzen. Mitte Mai zogen acht Auserwählte schließlich ins entspannt-vagabundeske "Raskolnikoff" in der Neustadt ein – und führten tagelang ein Leben auf Kosten der bürgerlichen Gesellschaft.
Dabei war der Dresdner Tagesablauf der acht "Gauner, Gaukler, Tagediebe", der "Literaten, Orgeldreher, Taschenspieler" (so Karl Marx über diejenigen, "die die Franzosen 'la bohème' nennen") in Wirklichkeit strikt durchgeplant. "Von wegen Bohème", lachte die Komponistin Raquel García-Tomás beim Schwatz im Café (wo sonst!), "ich empfinde meinen Aufenthalt hier als sehr konzentrierten Arbeitsaufenthalt. Das Projekt ist ja sehr riskant: in nur zwei Wochen müssen wir gemeinsam ein neues Werk auf die Bühne bringen!" Ihr Anteil daran, erzählte die Katalanin, die gerade in London über das Zusammenwirken von Musik mit anderen Künsten, mit dem Raum und dem Publikum promoviert, ist eine Komposition aus Geräuschen der Autofabrik. Aus dem Quietschen der Reifen auf dem Manufakturparkett, dem Sirren der Akkuschrauber, dem Streichen über feines Leder hat sie eine Klangmélange gemacht; ihre Mitstreiterin Judith Michael fügte Lichtkunst, die Dichterin Theresa Hahl Wortkunst, die Gegerin Caroline Goulding Musik von Bach hinzu, die beiden Hamburger Schauspieler Carolin Wedler und Altamasch Noor und die Dresdner Tänzerin Marita Matzk runden das Werk ab. Die heutige Abschlusspräsentation findet an einem Ort statt, der zu der Projektphilosophie in eigentümlichem Kontrast steht: in der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen.
Martin Morgenstern

