August der Starke war nie in der Türkei, und die Berichte, die ihm über das Osmanische Reich zugetragen wurden, nahmen es mit der Wirklichkeit nicht so genau. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen schätzte man am Dresdner Hof das Märchenhafte, den Prunk... Die Musik allerdings wirkte auf die Sachsen wie ein Kulturschock. Ein Gespräch mit dem Musiker Mehmet Yeşilçay.
Mehmet Yesilcay, wie ein Kernphysiker lassen Sie barocke und osmanische Musik aufeinanderprallen und gucken, was passiert. Gab es ein musikalisches Erweckungserlebnis, das Sie auf diese Idee brachte?
Das liegt vielleicht in meiner Herkunft begründet. Ich kam mit neun Jahren nach Deutschland und bin erst mal nicht mit Klassik, sondern mit Jimi Hendrix konfrontiert worden. Mit sechzehn, siebzehn begann mich wieder die hochkomplexe osmanische Musik zu faszinieren, parallel beschäftigte ich mich mit europäischer Musik; aber nicht aus dem Barock, eher mit den Zeitgenossen. Irgendwann habe ich versucht, Verbindungspunkte dieser Stile für ein gemischtes Ensemble zu finden, Werke selber zu schreiben. Erst dann, Mitte der Achtziger, habe ich angefangen, mich mit mittelalterlicher Musik aus Spanien und Italien zu beschäftigen. Eine komplexe Entwicklung, oder?
Ja, vor allem: wie und wo nähert man sich denn in Deutschland am besten der osmanischen Musik?
Es hat mich sehr viel Zeit gekostet, das herauszufinden. Ich habe viel Schule geschwänzt, und mein Studium hat doppelt so lange gedauert. Über Jahre bin ich viele Male in die Türkei gereist, um Musik aus der ersten Quelle zu hören und bei den großen Meistern wie Cinuçen Tanrikorur zu studieren. Nur so kann das funktionieren.
Und irgendwann entschieden Sie: jetzt machen wir die mal selbst?
Ich hatte ja ein Mittelalter-Ensemble, dort verabschiedete ich mich irgendwann, und zeitgleich ging Werner Erhardt von Concerto Köln weg. Wir trafen uns und überlegten, was wir gemeinsam auf die Beine stellen könnten. Das ist die Geburtsstunde von Pera.
Gibt es denn eigentlich ein Pendant zum Interesse der Europäer an türkischer Musik?
Nein. Die Osmanen haben sich lange geweigert, europäische Sprachen zu lernen und die Musik anzunehmen. Das begann erst 1830, 1840. Pera ist ja der Name eines Stadtviertels von Istambul, dort waren die europäischen Botschaften. Die Italiener, Franzosen, Engländer und auch die Deutschen hatten ihre eigenen Orchester. Aber der Austausch mit den Osmanen fand nicht wirklich statt, die Türken hielten diese europäische Kultur für minder. Andersherum ist ein Interesse für türkische Musik nicht erst bei Mozart, sondern schon bei Monteverdi zu finden: der kämpfte gegen die Türken in verschiedenen Seeschlachten! Die Sklaven, die Kriegsgefangenen trugen die Kultur hin und her. Die „Alla turca“-Mode kam dann nach der letzten Belagerung von Wien auf, als die militärische Gefahr gebannt war. Plötzlich interessierte man sich für die „edlen“ Türken.
Und die edlen Türken kümmerten sich nicht um die Europäer?
Das Osmanische Reich spannte sich einst von Spanien über den Balkan bis Afghanistan und China. Fünfhundert Jahre lang war es das weltgrößte Imperium! Es gab verschiedene Rechtssysteme, Kirchen und Moscheen standen nebeneinander. Hinzu kommt, dass die Araber und Türken im Mittelalter hinsichtlich der Baukunst, der Mathematik, auch der Geisteswissenschaften weit voraus waren. Da Vinci? Kalter Kaffee. Rom hat die Osmanen nicht interessiert, sie haben nur ab und zu mal damit gedroht, die Stadt einzunehmen. Mensch, die hatten 148 rhythmische Metren, 650 Tonleitern, Europa hatte quasi nur Dur und Moll! Da ist es doch kein Wunder, wenn ein Sultan im 16. Jahrhundert abfällig bemerkte, diese europäische Musik sei so einfach gestrickt, die würde ja nicht mal Kinder unterhalten! Der Niedergang der Geisteswissenschaften begann 1730; danach schaute man ab und an nach Europa.
…wo die Türkenmode am Dresdner Hof schon Blüten getrieben hatte. Wie müssen wir uns die eigentlich vorstellen?
Das können wir gar nicht mehr genau sagen. Wir können zumindest den höfischen Berichterstattern nicht trauen, die alles beschönigt haben. Ungefähr wissen wir, was musikalisch gespielt wurde. August war ein großer Freund der osmanischen Kultur und Mode. In die Hochzeitsfeierlichkeiten seines Sohnes war eine eigene türkische Feier integriert, ein Janitscharenensemble spielte. Noch heute sieht man in den Museen, was er an Zelten, Schmuck, Kleidern hortete: noch sein Großvater hatte gegen die Türken gekämpft! Seine türkische Geliebte Fatima gebar ihm ein Kind, das er anerkannt hat! Aber man muss auch sagen, August war nie in seinem Leben in der Türkei. Und die Berichte und Quellen waren miserabel. Nackte Frauen, die im Harem rumliegen: das war so ungefähr die barocke Vision des Orients. Speziell am Dresdner Hof schätzte man zudem das Märchenhafte, den Prunk. Wenn sich der türkische Botschafter bei Ludwig XIV. ankündigte, haben sie allein dafür einen Boten mit 600 Leuten geschickt. Kaffee, Kleider, Musik, die Janitscharenensembles, das war für die Leute sehr interessant.
Verstanden die Europäer die osmanische Künste?
Überhaupt nicht. Monteverdi versuchte die türkische Musik zu imitieren, hörte die modale Musik mit ihren Mikrointervallen und versuchte, das mit Chromatik abzubilden. Für Europäer war diese Musik ein Kulturschock, manche schrieben von „Gejaule“, aber auch von Musik aus dem Paradies. Ich glaube, die Faszination galt nicht nur der Musik: die Gewürze, die Gerüche, die Reinlichkeit des Orients! Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit einer Karawane in eine Karawanserei. Dort durften Sie eine Woche kostenlos bleiben, Wasser, Nahrung, die Tiere wurden versorgt, alles Flatrate sozusagen! Medizinische Versorgung gab es zum Nulltarif. Seit dem 14. Jahrhundert inklusive Musiktherapie, später die ersten öffentlichen Impfungen, wovon Lady Montagu (1689-1762) in ihren Briefen aus dem Orient berichtet. Es gab Armenhäuser, Krankenhäuser, Universitäten. Die Türken sind die Erfinder des Stiftungswesens, auch der Suppenküchen: Man sagt, dass man in Istanbul niemals einen Menschen sah, der gehungert hätte. Es gab keinen Adel, alle waren gleich.
