Ein Allerweltsmensch ist er nicht. Wollte er auch niemals sein. Aber war er ein Weltbürger? Sein häufiges Unterwegssein ließe den Schluss zu. Heute ist sein Name rund um den Globus bekannt. Selbst musikalisch weniger affine Menschen kennen „ihren“ Richard Wagner fast überall auf der Welt. Der heimliche Held von Bayreuth – ein Franke war er nie. Wenn überhaupt etwas, dann Sachse. Und da geht der Streit erst richtig los. Denn Leipzig, seine Geburtsstadt, postuliert in diesem Jahr sehr selbstbewusst: „Richard ist Leipziger.“ Die nahegelegene Ex-Residenzstadt im Elbtal kontert mit: „Dresden – Wo Wagner WAGNER wurde.“
Ein Spaziergang durch diese beiden ungleichen Metropolen soll die hinterlassenen Spuren auffrischen.
Wer das Geburtshaus von Richard Wagner sucht, hat keine Chance. Eine Bronzetafel am Leipziger Brühl informiert darüber, dass es „An dieser Stelle“ und „bis zum Jahre 1886“ gestanden haben soll. Tatsächlich gilt der 1656 erstmals erwähnte Gasthof Zum Roten und Weißen Löwen, der drei Jahre nach Wagners Tod abgerissen wurde und wechselnden Handelshäusern Platz machen musste, als der Ort, an dem das neunte Kind von Johanna Rosine und Carl Friedrich Wilhelm Wagner zur Welt gekommen sein soll. Doch zur ewigen Frage, ob nicht vielleicht doch der Schauspieler und Porträtist Ludwig Geyer Richards leiblicher Vater gewesen sein könnte, gesellt sich inzwischen ein Zwist um den wahren Geburtsort des Knaben. Denn im Taufregister der Thomaskirche erscheint erst am 16. August 1813 ein Eintrag, fast ein Vierteljahr nach der Geburt. Der mögliche Grund dafür wird gleich nachgeliefert: 1813 tobten in und um Leipzig die Befreiungskriege gegen Napoleons Truppen. Kein guter Zeitpunkt für eine friedliche Taufe. Gut denkbar, dass die Familie des Königlichen Polizeiamtsaktuarius' sicherheitshalber rechtzeitig vor Rosinens Niederkunft in den – heute längst eingemeindeten – Vorort Stötteritz ausquartiert wurde und erst nach der Rückkehr im Sommer die Kindstaufe vornehmen ließ. Richard Wagner, ein Stötteritzer?
Richard wer?
Jetzt muss erst einmal die Rede von Richard Geyer sein, denn ein halbes Jahr nach der Entbindung war die Mutter verwitwet und zog 1814 mitsamt ihrer Kinderschar nach Dresden. Dort war der neue Ehemann, schon zuvor ein Freund der Familie, als Mime am Hoftheater engagiert. Ludwig Geyer soll sich rührend um Richard gekümmert und dessen musische Neigung gefördert haben.
Auch von den Lebensstationen der frühen Patchwork-Familie findet sich kaum noch ein Zeugnis. Von 1822 an besuchte Richard fünf Jahre lang das Kreuzgymnasium, das sich damals noch in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kreuzkirche befand. Kruzianer allerdings wurde er nicht, sein Interesse galt seinerzeit der griechischen und römischen Mythologie, auch die ersten Versuche in Dichtkunst stammten aus jener Epoche. Ende 1827 lebte seine Familie wieder in Leipzig, dort besuchte der kunstsinnige Filius zunächst die altehrwürdige Nikolaischule, wo sich zuvor schon Koryphäen wie Leibnitz, Thomasius oder Seume ihre Sporen verdienten. Diese auf eine Gründung vom Ende des 12. Jahrhunderts zurückgehende und 1512 als erste städtische Bürgerschule in Leipzig geweihte Einrichtung ist – nach mehrfachem Umbau, langer Verwahrlosung und gleich 1990 in Gang gesetzter später Rettung – als Alte Nikolaischule noch heute einen Besuch wert. Im früheren Klassenzimmer ist eine Gaststätte, draußen ein Freisitz mit Blick auf die Nikolaikirche, in oberen Etagen das Antikenmuseum der Leipziger Universität sowie die Kulturstiftung Leipzig. Vor zwei Jahren wurde in diesem geschichtsträchtigen Haus ein Richard-Wagner-Gedenkort geweiht.
Der hatte in Leipzig, das im 19. Jahrhundert als musikalische Hauptstadt der Romantik galt, seine Bestimmung zum Musiker gefunden. Beethovens „Fidelio“ gab wohl den Ausschlag dafür, „treibe nur Musik ohne Unterricht“ hielt Wagner daraufhin fest. Autodidaktischen Studien folgten Lehrstunden beim Gewandhausgeiger Christian Gottlieb Müller und beim Thomaskantor Christian Theodor Weinlig, der auch Clara Schumann unterwies, sowie – ohne vorherigen Schulabschluss – die Immatrikulation als Student der Musik. Weder die alte Alma Mater noch das damalige Gewandhaus, in dem 1832 Wagners Ouvertüre d-Moll aufgeführt worden ist, haben die Zeiten überdauert, auch nicht die einstige Thomasschule, die Wagner kurzzeitig besuchte. Doch stolz wie eh ragt die Thomaskirche empor, in der er getauft worden ist.
Ehekrach am Schillerplatz
Nach europäischen Umwegen via Würzburg, Bad Lauchstädt, Magdeburg, Königsberg und Riga traf Richard Wagner, inzwischen mit der Schauspielerin Minna Planer verehelicht und zwei entbehrungsreiche Jahre in Paris hinter sich, ein weiteres Mal in Leipzig ein und reiste von da aus per Eisenbahn nach Dresden. Die erste deutsche Fernbahnstrecke war erst 1839 eröffnet worden. Er folgte einem Ruf der Dresdner Hofoper, die seinen „Rienzi“ herausbringen wollte. Deren gedankliche Wurzeln sollen im einstigen Blasewitzer Gasthof ranken, wo Wagner im Sommer 1837 den gleichnamigen Roman von Edward Bulwer-Lytton gelesen hatte. Anlass dieser Lektüre – ein heftiger Ehekrach in Königsberg, von wo aus Minna mit einem Liebhaber zu ihren Eltern nach Dresden floh. Am heutigen Schillerplatz kann man der Episode gedenken.
Das künstlerische Resultat, „Rienzi, der letzte der Tribunen“, hatte im Oktober 1842 so überzeugt, dass für Januar 1843 die Uraufführung „Der fliegende Holländer“ angesetzt und Richard Wagner bald darauf als Königlich-Sächsischer Hofkapellmeister ernannt worden ist. Auf Lebenszeit! Bekanntlich sind daraus nicht viel mehr als sechs Jahre geworden, wegen seiner Beteiligung am revolutionären Maiaufstand musste der steckbrieflich gesuchte Musiker am 9. Mai 1849 Hals über Kopf fliehen. Kurz zuvor stand er noch mit Michail Bakunin auf dem Turm der Kreuzkirche, um von dort aus die Truppenbewegungen zu sondieren. Sechs Wochen später wurde er seines Postens enthoben – wegen unentschuldigten Fernbleibens vom Dienst! Da hatte der verhinderte Revoluzzer längst ein sicheres Asyl in der Schweiz bezogen und behielt den Kopf oben.
Sehenswert ist noch immer das im italienischen Barock erbaute und heute zum Krankenhaus Friedrichstadt gehörende Marcolini-Palais, wo Wagner zwei Jahre zur Miete gewohnt hat.
Wagners Geist ist lebendig
Rehabilitiert wurden er und sein streitbarer Gefährte Gottfried Semper erst Jahre später. Dennoch konnte der geniale Architekt ab 1871 aus dem fernen Exil sein zweites Opernhaus in Dresden errichten. Sohn Manfred leitete den sieben Jahre später fertiggestellten Neubau, dessen Vorgänger 1869 abgebrannt war. Richard Wagner durfte ab 1860 wieder in die Staaten des Deutschen Bundes einreisen, nach Sachsen jedoch erst zwei Jahre später. Die Semperoper wie auch die Frauenkirche hatte er mehrfach besucht, für letztere 1843 auch sein gewaltiges Chorwerk „Das Liebesmal der Apostel“ verfasst. Nach „Rienzi“ und Holländer wurde in Dresden 1845 noch „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ uraufgeführt, vom hier entstandenen „Lohengrin“ erklangen nur Ausschnitte in Dresden, die Uraufführung übernahm der spätere Schwiegervater Franz Liszt 1850 in Weimar. Doch die historischen Stätten fielen dem 2. Weltkrieg zum Opfer, die Semperoper von heute ist erst 1985 wieder eingeweiht worden, die Frauenkirche blieb bis 1994 eine mahnende Ruine. Wer will, kann nun aber an beiden Orten wieder den Wagnerschen Geist spüren. Sein Werk wird da wie dort sehr lebendig gehalten.
Michael Ernst


