Interview |

Wagner mal philosophisch

Was mich von Anfang an im Hinblick auf Wagners Musik fasziniert hat, ist die Art und Weise, in der er mit seiner Musik, aber auch den selbst geschriebenen Libretti philosophische Fragen transportiert hat. Einerseits beobachtet man dies in seinen Briefen und anderer Dokumentation, aus der man herauslesen kann, wie er mit den Gedanken von Feuerbach und Schopenhauer versucht, sein persönliches Weltbild mit den gesellschaftlichen Herausforderungen jener Zeit in Einklang zu bringen. Er ist an der Welt und den Zusammenhängen interessiert, und transportiert für mich entsprechend ein gewisses Wunder, eine nicht zu stillende Neugier.

In seine Kompositionen webte Wagner philosophische Gedanken und Ideen ein, die bis heute unterschiedlich aufgefasst werden, vom Ansatz her aber die Welt verbessern und seine Kommentierung auf das aktuelle Geschehen transportieren sollten. Um Wagners Werk im Blickpunkt auf die Philosophie näher zu diskutieren, wandte ich mich an die amerikanische Musikphilosophin Robin James, deren Bücher ich bereits während meines Musikstudiums an der Belmont University in Nashville-Tennessee begeistert gelesen habe. Ich bin dankbar, dass sich Robin James zu einem intensiven Austausch mit mir bereit erklärte, und so legten wir uns auf zu diskutierendes musikalisches Material fest.

Dass „Tristan und Isolde“ ein gutes Werk sei, um Wagners philosophische Gedankenwelt zu besprechen, bestätigte nicht nur sie. Robin James verwies mich auf Friedrich Nietzsche. Dieser schreib in seinem „Ecce Home“ darüber, wie fasziniert er von Wagners Darstellung des Ungeheuren, sowie den „fünfzig Welten fremder Entzückung“  war und sich letztendlich tief mit dem Komponisten verbunden fühlte:

Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der „Tristan“ ist, – ich suche in allen Künsten vergebens. [...] Ich denke, ich kenne besser als irgend Jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen Niemand außer ihm Flügel hatte; und, so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vortheil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den großen Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, dass wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsere Namen ewig wieder zusammenbringen.

Die mystischen, ungeheuren Welten, zu denen man Flügel benötigt, um einen Zugang zu finden, sind der Kernpunkt meines Interesses in Bezug auf Wagners in der Musik transportierte Philosophie. In dieser Hinsicht ist Robin James für mich eine Brücke zu Wagners Musik geworden. Sie befasst sich in ihrer Forschung mit der Frage, inwiefern in Musik philosophische Inhalte hörbar werden. »Zuerst muß ich klarstellen: Ich als Musikphilosophin philosophiere nicht über Musik, sondern konzentriere mich in meiner Arbeit eher auf philosophische Inhalte, die durch die Musik transportiert werden«, erklärt Robin James. »Dabei lese ich die Stücke wie philosophische Texte. Wir Musikphilosophen analysieren einerseits Ideen innerhalb der Musik. Anhand von Strukturen und Zusammenspiel verschiedener musikalischer Elemente kann man oft eindeutige Schlüsse ziehen, die besonders die Wirkung der Komposition in Hinsicht auf den Zeitbezug erläutern. Dies ist aber natürlich immer eine subjektive Geschichte, und so sollte das auch bleiben«, erläutert Robin James. »Auch der Inhalt kann philosophischer Natur sein. Und dort kommen die Themen ins Spiel. Die Art und Weise, in der ein Komponist menschliche Emotionen wie Glück, Liebe, Hass oder Sehnsucht darstellt, kann im Kontext mit seinem Werk und der Zeit eine Grundlage für eine philosophische Auseinandersetzung geben. Ein Paradabeispiel sind da die Liebesszenen in Tristan und Isolde

Parallelen in Musik und Gesellschaftsstruktur?

Besonders bei Wagner fielen Robin James aber die formellen Informationen auf, die in Aussage und Intensität, Eindeutigkeit oder auch Nachdruck variieren können. »Bei ihm spielt hinein, wie die Gesellschaft um ihn herum funktioniert, oder auch nicht funktioniert hat, besonders aber wie diese damals strukturiert gewesen ist.« Ohne groß danach suchen zu müssen, fände der interessierte und vorbereitete Musikliebhaber selbst beim reinen Zuhören Parallelen zwischen musikalischen Elementen wie Harmonie, Tonalität und Melodiephrasierung mit sozialen Strukturen. Besonders im Tristan spürt James die Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Erwartungen, rechtliche Einigungen und die Kluft zwischen zwei unterschiedlichen, hier entwicklungsbedingten Zuständen. »Es geht bei Wagner oft nicht nur um die Erwartung einer bestimmten Harmonie, die bei ihm ja sowieso bis ins letzte ausgetüftelt und ausgeschmückt scheint. Mehr geht es um das Zusammenspiel der Schlußwendungen, die auf bestimmte Art und Weise enden. Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Musik erwarten wir eine Reaktion, eine Stimulation, die daraufhin politische Ideale und eine Änderung des kompositorischen Verlaufs heraufbeschwört. So wie Tristan sich durch magischen Einfluaa entscheiden musste, seinem Auftrag zu wiedersprechen und der Liebe zu folgen, erlebt der Zuschauer auch musikalisch das Aufeinanderprallen von verschiedenen Interessenkonflikten. Durch solche in der Musik dargestellten Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse können wir philosophische Grundfragen mal ganz anders, nämlich akustisch, erleben.«

»In Tristan und Isolde erlebt das Publikum ein Aufbauschen der Situation, die immer brenzliger und undurchsichtiger wird«, erinnert sich die amerikanische Musikphilosophin, die als Oboenspielerin bereits selbst Wagners Musik im Orchestergraben interpretiert hat. »Man erlebt keine richtigen Schlüsse bis zur 45. Minute – und sowohl der Zuhörer als auch die Themen kommen erst dann gegen Ende des ersten Aktes mit einer ersten nachvollziehbaren Schlußwendung zu einer Art Verschnaufpause, die aber auf den Zuhörer eine besonders intensive Wirkung hat.«

Diese mit dem ewig wirkenden Strudel entstehende Unsicherheit, der Einfluß des Unbekannten auf die im Strom der Entwicklung treibenden Beteiligten, sowie der Umgang mit fremden Spannungen ist für Robin James Wagners Kommentar zum damaligen Wandel in der Gesellschaft. »Er schafft es, in Form, Detail, Inhalt und Musik, insbesondere mit einer neuen Behandlung der Harmonik, die Krise im Volk zu kommentieren, die durch die industrielle Revolution hervorgerufen worden ist. Die für das Individuum hauptsächlich unangenehme Veränderungen mit sich gebracht hat, mit denen die Menschen einfach nicht klarkamen.« Die Konflikte um das Liebesgeständnis sieht James als Schlüssel zu einer Gesellschaftsanalyse: »Weil das Fundament fehlte, waren alle Beteiligten im Strom der Geschehnisse erfasst worden. Im kompositorischen Detail erfahren wir, wie Wagner den allgegenwärtigen Mangel an Orientierungsfähigkeit in der Gesellschaft hörbar macht.« 

Liebe und Leidenschaft in Reinstform

Ein weiterer Aspekt bietet die Grundlage für eine interessante philosophische Diskussion: Wagners Privatleben. Über seinen Ehering hinweg hatte sich Wagner ja in Mathilde Wesendonck verliebt. Als seine Frau dann noch einen heimlichen Liebesbrief abfing, war das Chaos perfekt. Entsprechend der Forschung von Julia Kristeva, die im Bereich Literaturkritik, Psychoanalyse und Philosophie auf dem internationalen Buchmarkt Schriften veröffentlicht, ist die thematisch klassische Darstellung der Liebesgeschichte in Tristan und Isolde vergleichbar mit der Tragödie um Romeo und Julia. Und damit für Wagner eine Rechtfertigung, daß eine nicht legitimierte Liebe doch in ihrer Intensität reell wird. Durch das Scheitern der Beziehung, die äußeren Umstände und den ewigen Kampf um eine bloße Existenz, steigert sich die Zuneigung und Liebe zu einer Leidenschaft in der reinsten Form. Da die Zauberkünste ebenso eine Rolle spielen, intensiviert sich die Handlung nicht nur, sondern bestimmt auch gewisse Reaktionen vor, sowie öffnet sie die Handlungsebene und führt die Figuren in eine verklärte Welt.

Da die Lebensdauer der Liebe (hier zwischen Tristan und Isolde) durch den Tod zeitlich begrenzt ist, spricht Julia Kristeva sogar davon, daß sie in einer der pursten Existenzen konserviert worden ist. »Indem er sie sterben ließ, hat er das reine Paar gerettet«, schreibt Julia Kristeva in ihrem Buch Geschichten von der Liebe (edition suhrkamp). »Er hat durch das Leichentuch des Todes die Reinheit der Ehe bewahrt.« Diese Reinheit kann man in Isoldes letzten Worten in der Oper sehr gut wahrnehmen. Mit den Worten »Wie den Lippen, wonnig mild, süsser Atem sanft entweht: - Freunde! Seht! Fühlt und seht ihr's nicht?« spricht sie mit dem verstorbenen Tristan und den Umstehenden.

Robin James schließt sich Julia Kristeva an. Sie beobachte aufmerksam, welche Entwicklungsphasen der Liebe Tristan und Isolde durchlebt haben, welche gesellschaftlichen Hindernisse und Regeln sie überkommen mußten, und welche Entwicklungsphasen einer vielleicht auch Alltag werdenden Beziehung in der Oper mit der Trennung durch den Tod nicht ermöglicht wurden. »Dadurch, dass den Liebenden eindeutige Grenzen gesetzt werden, können sie nur innerhalb ihrer auch zeitlichen Möglichkeiten agieren, und kämpfen noch stärker gegen die äußeren Umstände an«, erläutert James. »Entsprechend steigert sich die Liebe in ein Extremum hinein, und dieses darf in jugendlicher Inbrunst auf ewig weiter existieren, denn die Liebenden mussten ja mit dem Tod bezahlen.«

Kompositorisch ist für Robin James das Suchen nach der ersten richtigen Schlusswendung beziehungsweise die Steigerung des Kampfes um die Existenz der leidenschaftlichen Liebe übrigens eine auch ans Publikum gewandte Herausforderung: »Richard Wagner, der sich selbst als philosophisch talentiert ansah, wollte mit seinen Stücken ja auch ein klein wenig die Welt verbessern. Sowohl der Zuhörer, aber auch der Charakter auf der Bühne muß mit der lang andauernden  Entwicklung klarkommen, und mit ihr wachsen, auch wenn die heiß ersehnte Auflösung nicht vorhanden ist, und sich die Situation immer mehr zuspitzt.« Und sie fährt fort: »Ihn als Komponisten erlebt das Publikum auch heute noch, und es ist eine natürliche Reaktion, mit der auf Wirkung ausgezielten Musik mitzufiebern. Ich bin davon überzeugt, dass er nicht nur die Figur auf der Bühne in ihrem Charakter entwickeln, sondern auch den Zuhörer in gewisser Weise erziehen wollte, um ihn durch ein forciertes Aushalten der Situation und der stetigen Neuorientierung zu einem besseren Menschen werden zu lassen.«

Der Hörer muss seine eigenen Antworten finden

In einer Hinsicht sei Wagner aber Komponist, also Künstler geblieben. Und nicht wie seine Bestrebungen es vielleicht vermuten lassen zum gleichwertig talentierten Philosophen avanciert. Robin James empfindet, daß er in seinen Grundzügen eher Kunst als Philosophie produziert hat. »Musik und Philosophie teilen beide Ideen mit, Konzepte wenn man es so will. In der Philosophie geht es allerdings um Behauptungen und deren definitive Erläuterung«, definiert Robin James. »In Musik wie in allen Künsten allerdings erkennt der Philosoph nur Anstöße, und Beleuchtungen eines Themas von verschiedenen Seiten.« Ein Beispiel dafür sind Isoldes letzte Worte, die unendlich viele Fragen aufgreifen. Fragen, die sie selbst mit Tristan, den sie umgebenden Personen und vorallem der Außenwelt, ja sogar dem All miteinander in Verbindung bringen. Die vielen Fragen beziehen sich auf Wahrnehmungsmöglichkeiten des symbolischen Weltatems, und fordern Isoldes Umgebende auf, zu lauschen, sehen und fühlen wie sie selbst. »Wagner ist sehr begabt darin, verschiedene Spielarten eines bestimmten Oberbegriffs wie Liebe vorzustellen, und mit Hilfe von Details auch Entwicklungen hineinzugeben, die verschiedene Möglichkeiten und Richtungen aufzeigen. Der Hörer soll sich ein eigenes Bild machen, sich selbst wiederfinden. Und das erreicht ein Komponist nur, indem er philosophische Strukturen so offen wie möglich, aber gleichzeitig mannigfältig wiedergibt.«

Wagners Musik inspiriert den Zuhörer also dazu, seine eigene Antwort zu finden. Ein sehr zentrales Merkmal verbindet den Komponisten allerdings sehr eng mit dem Grundwesen der frühen Philosophie, enger als kein anderer Komponist. Auch wenn Robin James ihn nicht als Philosophen anerkennen würde, räumt sie diesen Punkt ein: »Wagner nutzt das Wunder, das Mystische und das Staunen als Grundlage in seinen Werken, und ganz besonders in den Verflechtungen in Tristan und Isolde

»Auch wenn er umstritten bleibt, ist Richard Wagners Musik für mich umso spannender«, sagt Robin James. »Ich erinnere mich, als ich das erste Mal von dem doch sehr unterschiedlichen Sound regelrecht überwältigt war, und mich als Oboistin von den tiefen Bläsern fast umgeworfen gefühlt habe. Letztendlich zählt bei jedem philosophischen Diskurs auch einmal die Wirkung, das Erleben und nicht nur die Fakten, wie man dahin kommt. Wagner ist schon ein außergewöhnlicher Komponist, den man sowohl erleben als auch ergründen kann, und ich kann nur jedem empfehlen, auch auf die Details in seiner Musik zu achten.«

Marion N. Fiedler

Prof. Robin James hat ihre wissenschaftlichen Wurzeln in kontinentaler Philosophie, Feminismus, sowie kritischer Rassentheorie geschlagen. Sie wählte für diesen Artikel dieses Foto, um ihre Arbeit vorzustellen. Dabei schreibt sie selbst über sich und die
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Julia Kristeva ist Literaturtheoretikerin, Philosophin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin. Sie zählt zu den einflussreichsten Poststrukturalisten. Dank eines Promotionsstipendiums konnte Julia Kristeva 1965 von Bulgarien nach Paris gehen, was Schrit
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Marion Fiedler studierte Gesang an der Belmont University (Nashville, TN), sowie der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Auf www.musik-in-dresden.de veröffentlicht sie Texte und Interviews, die besonders die junge regionale Jazz- und Popsze
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