Wichtig sei allein die Musik, nicht der Schöpfer: das hat der 1943 in Dresden geborene Komponist Jörg Herchet immer betont. Wenigstens an seinem 70. Geburtstag wird Herchet aber nicht umhinkommen, dass sich Augen und Ohren auch auf seine Person richten. Für »Musik in Sachsen« hält sein langjähriger musikalischer Kollaborateur Christfried Brödel eine persönliche Rückschau.
Jörg Herchet hat einen interessanten Lebensweg hinter sich. Aus einer Arbeiterfamilie stammend, studierte er Komposition, Violoncello und Chordirigieren zunächst in Dresden, dann in Berlin. Seine Kompositionslehrer waren Johannes Paul Thilman, Manfred Weiss und Rudolf Wagner-Régeny. Weil seine Arbeiten "eines zukünftigen sozialistischen Komponisten unwürdig" seien, wurde ihm das Staatsexamen verweigert. Auch mit der Diplomarbeit gab es Probleme, denn nach Auffassung der Gutachter musste eine Kompositionslehre "zu Hanns Eisler und nicht zu Pierre Boulez" führen. Dennoch wurde er – nach einer Zwischenzeit als Hilfskraft im Buchhandel – als Meisterschüler von Paul Dessau an die Ost-Berliner Akademie der Künste aufgenommen. Danach lebte er als freischaffender Komponist ohne Existenzsicherung, denn er verweigerte trotz mehrfacher Aufforderung die Mitgliedschaft im Komponistenverband der DDR. Die in dessen Statut niedergelegte Verpflichtung, sich in seiner "Tätigkeit von den Beschlüssen der Partei der Arbeiterklasse ... sowie den Beschlüssen der Volksvertretungen und ihrer Organe leiten (zu) lassen", konnte und wollte er nicht unterschreiben. Erfolgreiche Aufführungen seiner Kompositionen in Dresden und Berlin, aber auch in verschiedenen Orten der damaligen Bundesrepublik, unter anderem in Donaueschingen und Darmstadt, brachten ihm Anerkennung und Lehraufträge für Tonsatz, Komposition und Analyse an der Dresdner Musikhochschule und an der Kirchenmusikschule Halle ein. 1990 wurde Herchet zum Dozenten, 1992 zum Professor für Komposition und Analyse an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden berufen, wo er bis 2009 lehrte.
Komponieren als Lebensbewältigung
Als ich Jörg Herchet 1976 kennen lernte, erregte er Verwunderung durch die klare Planung seines Lebenswerkes. Vieles davon hat er bereits umgesetzt und arbeitet weiter daran. Neben Solokompositionen für fast alle klassischen Instrumente stehen zahlreiche kammermusikalische Besetzungen (auch mit Gesang) und Werke für großes Orchester. Besonders hervorzuheben sind der Zyklus »DAS GEISTLICHE JAHR«, der Orgelzyklus »NAMEN GOTTES« sowie seine beiden Opern »NACHTWACHE« und »ABRAUM«, die beide in Leipzig 1993 bzw. 1997 ihre erste Inszenierung erfuhren. Fast alle vertonten zeitgenössischen Texte stammen aus der Feder von Jörg Milbradt, einem Theologen, dessen Worte Herchets kompositiorische Phantasie in besonderer Weise entzünden.
Komponieren ist das Lebenselement Jörg Herchets. Nicht Ehre und Anerkennung, nicht eine möglichst große Zahl von Aufführungen, nicht einmal das Verständnis der Hörer sind Motoren seines Tuns. Er schreibt in absoluter Hingabe an sein Werk und in einer stark religiös bestimmten Grundhaltung. Komponieren ist für ihn Lebensbewältigung und Annäherung an Gott.
Er schrieb vor Jahren: "Schließlich muß eine Kunst, die Gebet sein will, die ganze Leere, Verzweiflung, Offenheit, Glaubenslosigkeit der Zeit in sich aufnehmen – und welche Zeit wäre zersplitterter als die heutige -, aber eben darin liegt der Trost, daß alle diese Regungen einen Raum erhalten, sein dürfen, hingeordnet auf das Innerste, Gott – wie er in der Stille laut wird. ... Die Schwierigkeiten sind nicht gesucht ..., sie wachsen einem Menschen in dem Maße zu, wie er sich dieser Welt von gestern und heute stellt." Dieser Haltung entsprechen einerseits seine große persönliche Bescheidenheit, andererseits die Sicherheit, mit der er seinem eigenen Weg folgt und sich jeder Fremdbestimmung entzieht. Im Kulturbetrieb früherer und heutiger Prägung ist er immer ein Außenseiter geblieben, und das ist kein Zufall.
Seine Werke, die meist nur den Titel »komposition« tragen, sind durch eine klare Strukturierung bei zugleich großer Komplexität gekennzeichnet. Wem das Glück zuteil wird, von Herchet eines seiner Werke erläutert zu bekommen, erlebt eine Stunde dichtester Information, mit ansteckender Begeisterung vorgetragen. Wenn der Komponist dann behauptet, er schreibe eigentlich rein aus dem Gefühl heraus, so kann man ermessen, mit welcher Souveränität er das Handwerkszeug von Akkordstrukturen, Permutationen, Zahlrenreihen und Entwicklungslinien beherrscht, um einer inneren Logik zu folgen und gleichzeitig völlig frei zu gestalten.
Herchets Tonsprache ist vom Anfang bis heute unverwechselbar dieselbe. Doch hat sich der Komponist mit jedem weiteren Werk immer neue Bereiche erarbeitet und erschlossen.
»im lichtstrom versunken nun sonnenhaft«
Am 20. September begeht Jörg Herchet seinen 70. Geburtstag. Dies nimmt die Altenburger Verlagsgruppe Klaus-Jürgen Kamprad, die bereits eine beachtliche Reihe von Einspielungen des kompositorischen Werkes Herchets auf CD in ihrem Programm hat, zum Anlass für die Veröffentlichung einer umfassenden und aufschlussreichen Auswahl solcher Aufsätze aus verschiedenen Zeiten und Kontexten.
Im Rahmen einer Veranstaltungsserie, die die Dresdner Musikhochschule für Herchet ausrichtet, wird das Buch »im lichtstrom versunken nun sonnenhaft« am Samstag, 21. September im Kleinen Saal der Hochschule vorgestellt.
Selbstverständlich ist auch die Meißner Kantorei 1961 unter den musikalischen Gratulanten. In einem Matineekonzert am Sonntag, dem 22. September, erklingen um 13 Uhr in der Martin-Luther-Kirche Dresden Herchets »kantate zu mariens verkündigung für sopran solo, chor und vier schlagzeuger« und die »kantate zum 17 sonntag nach trinitatis Nr. VI für sopran solo, schlagzeuginstrumente und gemeinde/publikum (Uraufführung)«.
Christfried Brödel
Christfried Brödel studierte Mathematik, übernahm 1961 die Leitung der »Meißner Kantorei« und fungierte von 1988 bis 2013 als Rektor der Kirchenmusikschule / Hochschule für Kirchenmusik.

